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Klein, aber fein: Theodor-Wolff-Preis für Wümme-Zeitung

Kollegen beschreiben Lars Fischer, Jahrgang 1969, als bescheiden und bodenständig. Familie, Zusammenhalt, Gemeinschaft zählen für den gebürtigen Bremer, Musik gehört zu seiner Leidenschaft. Eine Woche hat er recherchiert, am Ende alles aufgeschrieben - der freie Journalist der Wümme-Zeitung hat es geschafft, er wird mit dem wichtigsten Journalistenpreis der deutschen Tageszeitungen ausgezeichnet.

Berlin - Wer Lilienthal kennt, stammt entweder aus dem Bremer Umland oder sein Onkel, seine Tante, sein Freund leben in dem Ort (oder in der Nachbarschaft, zum Beispiel in Lemwerder). Die Menschen kennen sich, gemeinsam wird gefeiert und gestritten, nach Bremen-City ist es nicht weit, und doch ist die Großstadt weit entfernt, um keine Unruhe zu stiften. Der Bürgermeister kommt sogar von den Grünen und einzig Mercedes-Fans könnten den Ort auch so kennen, wegen Kultmobile, einen Oldtimer-Händler; Jens Schiwy, der Eigentümer, zählt zu den wichtigsten Oldtimer-Experten in Deutschland.

Hier also erscheint seit dem 17. Mai 1879 die Wümme-Zeitung, eine Regionalausgabe vom Weser-Kurier, die IVW weist für das Blatt eine Auflage von 12.423 Exemplaren aus.

Sie ist eine ehrliche Zeitung, eine mit Herzblut, die die Menschen vor Ort unterhält, ihr Leben in den Mittelpunkt rückt. Guter Journalismus mit allen Sorgen und Pflichten, die der Lokaljournalismus bieten kann, erstellt wie überall zu oft unter Zeitdruck. Mehr Personal wäre gut, ein höherer Etat natürlich auch. Aber welche Redaktion würde sich nicht mehr Mitarbeiter, mehr Geld wünschen?

 

Lars Fischer beim "Containern". Foto: Hans-Henning Hasselberg

 

Was die Wümme-Zeitung aber auch realisiert, sind Geschichten, die Zeit brauchen, die recherche-intensiv sind, die auch mal Trends aus der Großstadt auf dem Land nachgehen.

"Wir leben im Überfluss, keine Frage. Aber was macht ein Lebensmittel zu Müll, welches ist der Punkt, an dem eine Ware ihren Wert verliert, ohne ihre Funktion eingebüßt zu haben? Um das herauszufinden, muss man in die Abfallcontainer der Supermärkte gucken.

Es gibt Menschen, die davon leben. Statt einzukaufen, gehen sie containern. Kann man davon satt werden ohne Ekel? Und liegt tatsächlich so viel im Müll, wie behauptet wird? Probieren geht über theoretisieren: Eine Woche lang versuche ich, mich selbst so zu ernähren."

So steigt Lars Fischer in seine Reportage ein, schildert, wie er und seine 16-jährige Tochter Luca-Marie, von der die Idee zu dem Beitrag stammt, eine Woche vom "Containern" leben.

"Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich gewinne. Ich freue mich sehr über diese Auszeichnung. Es ist eine super Sache", sagt Lars Fischer im Gespräch mit NEWSROOM. Er wusste zwar, dass seine Reportage gelungen ist, den Leser packt, aber gleich den Wolff-Preis abräumen?

Fischer, dies muss man wissen, ist freier Journalist auf dem Lande. Er hat an der Universität Bremen Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Kulturwissenschaften auf Magister studiert, als Tourmanager gearbeitet, Konzerte veranstaltet, war Labelmanager bei einer Plattenfirma. Musik liebt er, mit Fritz Dressler hat Fischer das Buch "Music Hall Worpswede" geschrieben.

Weil er aber vom Lokal- und Musikjournalismus alleine nicht leben kann, arbeitet Fischer zusätzlich im Pflegedienst, für die laufenden Kosten, die ja auch dann anfallen, wenn es journalistisch mal nicht so gut läuft, die Aufträge ausbleiben. Berufsethos - gestern Abend, nachdem er über seinen Erfolg informiert worden war, stand erst noch ein Abendtermin für "seine" Lokalredaktion an, bevor er im Kreise seiner Liebsten anstoßen konnte.

Chefredakteurin: "Stolz wie Oskar"

Die Freude über diese hohe Auszeichnung ist Silke Hellwig, der Chefredakteurin des Weser-Kuriers, anzumerken. Die Schwierigkeiten, die Herausforderungen der vergangenen Monate - vergessen, zumindest für den Moment. Hellwig, die Vollblut-Journalistin, strahlt, sagt: "Wir sind stolz wie Oskar, dass der Weser-Kurier schon zum zweiten Mal in diesem Jahrtausend mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet wird."

Bereits 2006 erhielt Redakteurin Christiane Kröger den Preis des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger.

"Besonders stolz macht uns", so Hellwig, "dass ein Beitrag durch die Jury gewürdigt wurde, der in einer Lokalausgabe einer Regionalzeitung veröffentlicht wurde – nicht in der Wochenend-Ausgabe einer überregionalen Zeitung, nicht in einem Hochglanzmagazin, das für eine gute Geschichte schon mal ein paar Seiten freiräumt. Lars Fischers beeindruckendes „Mülltaucher“-Tagebuch samt der ergänzenden Interviews und Umfragen zeigt einmal mehr, dass hervorragender Journalismus überall entstehen kann. Auch in einer kleinen Redaktion in einer 18.000-Einwohner-Stadt namens Lilienthal."

 

Theodor-Wolff-Preisträger Lars Fischer, freier Mitarbeiter der Wümme-Zeitung Lilienthal.

 

Und was sind die Zutaten für eine erfolgreiche, preiswürdige, lesernahe Berichterstattung? Wie entstehen gute Geschichten auch in den Redaktionen in der Provinz? Was ist, was war nötig? "Dazu brauchte es eine Idee, Mut, Talent, viel Herzblut und eine gute Lokalchefin", so Hellwig zu NEWSROOM.

Für sie steht fest: "Mithin bekommt der Weser-Kurier und seine Wümme-Zeitung den Theodor-Wolff-Preis stellvertretend für viele kleine Lokalredaktionen, in denen - meist unbemerkt - grandiose Arbeit unter allem anderen als luxuriösen Umständen geleistet wird."

Weitere Preisträger - Martenstein, Cassier, Gorkow und Zastrow

Die anderen Medien, für die die diesjährigen Preisträger beim Journalistenpreis der deutschen Tageszeitungen - Theodor-Wolff-Preis schreiben, sind dagegen so etwas wie gute, alte Bekannte.

Den mit 6.000 Euro dotierten Preis in der Kategorie "Kommentar, Glosse, Essay" hat die Jury Harald Martenstein für seinen Beitrag "Der Sog der Masse " ("Die Zeit", Hamburg) zuerkannt, in dem der Autor ein in Form und Stil meisterliches Plädoyer für das Denken gegen den Strom hält.

Die zweite Auszeichnung in der Kategorie "Lokales" geht an Philip Cassier für seinen Beitrag "Eine Dosis jüdisches Penizillin" ("Berliner Morgenpost"). Cassier schildert in seiner Geschichte, wie und warum zwei hochbetagte Freundinnen die beste Hühnerbrühe von Berlin kochen.

In der Sparte "Allgemeines" geht der Theodor-Wolff-Preis an Alexander Gorkow sowie Volker Zastrow.

Alexander Gorkow ("Süddeutsche Zeitung", München) porträtiert in seinem Artikel "Ein anderes Leben" diskret und detailreich den Schauspieler Mathias Brandt und wie der sich ohne großes Aufhebens vom Schatten seines Vaters Willy Brandt freimachte.

Volker Zastrow beschreibt in "Wie Ken den Kopf verlor" ("Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung") den Fall von Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg als gesellschaftliches und politisches Phänomen.

Der Jury zum Theodor-Wolff-Preis gehören an: Markus Günther (Journalist, Augsburg), Peter Stefan Herbst (Chefredakteur "Saarbrücker Zeitung"), Bernd Hilder (Journalist, Leipzig), Christoph Irion (Chefredakteur "Reutlinger General-Anzeiger"), Bernd Mathieu (Chefredakteur "Aachener Zeitung" und "Aachener Nachrichten"), Bascha Mika (Publizistin, Berlin), Evelyn Roll (leitende Redakteurin, "Süddeutsche Zeitung", München), Franz Sommerfeld (Vorstandsmitglied Mediengruppe M. DuMont Schauberg mit Zuständigkeit Redaktion, Köln).

Dass die Jury in den vergangenen Jahren wirklich auch die Medienvielfalt bei der Auswahl der besten Stücke berücksichtigt hätte, kann man mit einem kleinen Blick auf JOURNALISTENPREISE leider nicht sagen.

Seit 2009 wählten die Juroren insgesamt je drei Mal Stücke aus der Berliner Morgenpost (übrigens die aktuell höchstdekorierte Hauptstadtzeitung überhaupt), Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung/Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung aus.

Gut, dass der Preis, der seit 50 Jahren besteht, jetzt reformiert wird.

Bülend Ürük

NEWSROOM-Service: Lesen Sie hier die Reportage und hier den Hintergrund des preisgekrönten Gewinnerbeitrages von Theodor-Wolff-Preisträger Lars Fischer. Der Beitrag ist im Original erschienen am 29. Oktober 2011 in der Wümme-Zeitung Lilienthal.

 

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