Viele Journalisten gehen beim Thema Migration einer lauten Minderheit auf den Leim
Zuwanderung scheint zum beherrschenden Thema des Wahlkampfs zu werden. Dass es vielen Menschen wichtig erscheint, liegt auch an der Berichterstattung, sagt Kommunikationswissenschaftlerin Nayla Fawzi. Doch viele Medien gehen dabei einer lauten Minderheit auf den Leim.
Mainz - Spätestens seit dem Messerangriff in Aschaffenburg, bei dem Ende Januar zwei Menschen ums Leben kamen, diskutiert Deutschland wieder einmal intensiv über Migration. Auch im Wahlkampf nimmt Zuwanderung - und vor allem deren Begrenzung - eine wichtige Rolle ein. Doch wie entscheidet sich, welche Themen rund um Migration im deutschen Journalismus wie viel Aufmerksamkeit bekommen?
Viele Redaktionen fühlen sich von Politik und sozialen Medien getrieben, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Nayla Fawzi im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Sie forscht an der Universität Mainz zu Demokratie und digitaler Kommunikation und beschäftigt sich unter anderem mit Migrationsberichterstattung. Wie Medien das Thema aufgreifen, wirkt sich Studien zufolge direkt auf das Empfinden der Menschen aus. Fawzi plädiert für mehr Verantwortungsbewusstsein und weniger Negativität.
KNA-Mediendienst: Frau Fawzi, das Thema Migration spielt im aktuellen Wahlkampf und in dessen medialer Begleitung im Augenblick eine große Rolle. Liegt das an der Migration selbst oder an anderen Faktoren?
Nayla Fawzi: Es gibt dazu keine aktuelle Studie. Was man aber sagen kann: Die Themen ploppen ja nicht einfach irgendwo auf. Sowohl die Politik als auch die Medien entscheiden, welche Themen die öffentliche Debatte beeinflussen. Dabei haben sie durchaus Gestaltungsspielraum. Mit Blick auf den Wahlkampf spielt eine Kombination aus mehreren Faktoren eine Rolle. Die AfD setzt natürlich sehr stark auf das Thema und dazu kommen dann sogenannte Schlüsselereignisse wie die schreckliche Messerattacke.
Hat es denn aber auch etwas mit der tatsächlichen Menge an Zuwanderung zu tun? Die Zahl der Asylanträge ist ja auf einem relativ niedrigen Niveau.
Genau, die Zahl der Anträge ist gesunken. Sie ist nicht niedrig, aber der Trend ist rückläufig. Darüber haben die Medien auch berichtet. Die anderen Ereignisse gehören ja aber auch zur Realität. Es ist eine Kombination aus politischer Gemengelage und Realfaktoren.
Kann man wissenschaftlich festlegen, welcher Umfang an Berichterstattung angemessen wäre, sowohl mit Blick auf die Empfindungen in der Bevölkerung, als auch im Vergleich zu anderen Themen?
Es gibt Studien, die sich Statistiken anschauen, also Asylzahlen, polizeiliche Statistiken und so weiter, und die dann schauen, welchen Stellenwert das Thema in der Berichterstattung hat. Das Wichtigkeitsempfinden in der Bevölkerung ist aber so eine Sache: Das wird natürlich von der Medienagenda beeinflusst und dann haben wir ein Henne-Ei-Problem. Was ist zuerst da? Dass es der Bevölkerung wichtig ist oder dass die Medien intensiv darüber berichten? Die Studienlage zeigt sehr deutlich, dass der Journalismus eine zentrale Rolle spielt. Wenn man sich anschaut, wie sich das Thema Migration entwickelt hat, sehen wir, dass das sehr volatil ist. Anfang 2023 hatte das Thema zum Beispiel nur für etwa sieben Prozent der Menschen eine große Bedeutung.
Was bedeutet das für den Journalismus?
Wenn sich die Berichterstattung nach einem Schlüsselereignis zuspitzt, wird es auch in der Bevölkerung wichtiger. Die Berichterstattung hat einen kausalen Einfluss auf die Publikumsagenda. Und dann kann man nicht wirklich argumentieren, dass Medien mehr berichten müssen, weil das Thema in der Bevölkerung wichtig ist. Dann haben wir eine sich selbst verstärkende Spirale. Da ist es wichtig, dass der Journalismus seiner Verantwortung gerecht wird und die Vielfalt an Themen von sich aus berücksichtigt und sich nicht von sozialen Medien und von der Politik treiben lässt.
Das heißt, die Berichterstattung wird maßgeblich von diesen Schlüsselmomenten getriggert?
Gewalt und Kriminalität haben prinzipiell einen hohen Nachrichtenwert. Berichterstattung ist stark auf Konflikte, auf negative Ereignisse fokussiert. Da hat man schon ein bestimmtes Aufmerksamkeitslevel und dann geht die Berichterstattung bei solchen Ereignissen hoch. Es passt einfach sehr gut zur Aufmerksamkeitslogik.
Nun gibt es ja aber beispielsweise bei Femiziden, also Morden an Frauen, tatsächlich einen strukturellen Hintergrund, der bei Kriminalität und Migration zumindest auch immer angenommen wird. Da wird aber scheinbar nicht so viel Fokus auf die Strukturen gelegt, die vermeintlich oder tatsächlich dahinterstehen. Warum ist ein Femizid kein solches Schlüsselereignis, das breite Berichterstattung auslöst?
Dadurch, dass die derzeitigen Messerattacken ja in der Öffentlichkeit stattfinden, hat das einen anderen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl und wird dadurch für eine größere Öffentlichkeit relevanter. Femizide, die in der Familie, im Privaten passieren, sind ein sehr wichtiges Thema, aber für eine andere Öffentlichkeit relevant.
Abseits von der Menge an Berichterstattung, wie sieht es beim Thema Migration denn inhaltlich aus?
Medienberichte über Migration werden von der Darstellung als Gefahr dominiert. Das zeichnet die Migrationsberichterstattung in Deutschland seit vielen, vielen Jahren aus. Dadurch wird natürlich ein bestimmtes Framing gesetzt, wie Migration in der Bevölkerung wahrgenommen wird.
Warum ist das so? Warum überwiegt das Negative?
Es ist ein wichtiger Faktor, dass über Migration vor allem im Kontext von negativen Ereignissen berichtet wird und das Thema dadurch mit den Nachrichtenfaktoren Negativität und Konflikt kombiniert wird. Das betrifft aber nicht nur Migration; auch bei anderen Politikfeldern haben wir einen sogenannten Negativity Bias, dass also Lösungen oder positive Ereignisse in den Hintergrund geraten. Es geht ja gar nicht darum, zu positiv oder unkritisch zu berichten, sondern neben Problemen auch Erfolge stärker in den Blick zu nehmen, um zu zeigen, dass es auch Sachen gibt, die gut funktionieren.
Wie entscheidet sich denn in einer Redaktion, ob über ein bestimmtes Thema im Zusammenhang mit Migration berichtet wird - und wie darüber berichtet wird? Und wer nimmt auf diese Entscheidungsfindung Einfluss?
Wie das genau abläuft, wissen Sie wahrscheinlich besser als ich. Aber es gibt im Journalismus Einflüsse aus ganz verschiedenen Richtungen, zum Beispiel strukturelle oder ökonomische Restriktionen. Aber natürlich haben Journalistinnen und Journalisten die Verantwortung, die Themenauswahl so zu treffen, dass sie möglichst ausgewogen ist und der Bevölkerung ein möglichst breites Themenfeld vermittelt. Das ist natürlich heute schwieriger, wo es durch soziale Medien ganz konkrete Metriken gibt, um zu sehen, welche Berichte erfolgreich sind und welche nicht. Da sieht man schon, dass der Journalismus sich viel stärker getrieben fühlt und um die Aufmerksamkeit konkurriert.
Mit wem konkurriert der Journalismus denn?
Mit nicht-journalistischen politischen Inhalten, aber auch mit Unterhaltung. Die Nachrichtennutzung der jüngeren Generationen läuft vorwiegend über Social Media ab. In den Newsfeed stehen journalistische Inhalte zwischen sehr vielen anderen. Da ist es sehr wichtig, dass der Journalismus sich seiner Verantwortung bewusst bleibt und sich nicht nur von diesen äußeren Faktoren beeinflussen lässt, sondern eine aktive, für die Demokratie verantwortungsvolle Rolle einnimmt.
Sie hatten ja schon erwähnt, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über Migration und der Wahrnehmung dieses Themas in der Bevölkerung gibt. Haben die Medien einen ähnlichen Einfluss auf die Agenda politischer Akteure? Die konsumieren die Realität ja auch zum größten Teil über Medien.
In Studien sieht man vor allem, dass die sogenannte symbolische politische Agenda sehr stark von der Medienberichterstattung beeinflusst wird, also die Reden, alles, was in der Politik mit Öffentlichkeitswirksamkeit zu tun hat. Diese Einflüsse sind aber auch wechselseitig. Die Politik will auch die Medienberichterstattung beeinflussen, mit Pressemitteilungen und auf anderen Wegen. Befragungen von Politikerinnen und Politikern zeigen sogar, dass medientaugliche Themen inzwischen eine bessere Chance haben, auf die politische Agenda zu kommen. Die Politik passt sich der Medienlogik an.
Welchen Einfluss hat denn der Medienwandel auf diese Dynamiken? Es gibt immer mehr "alternative" Medien und Social Media. Mögen Algorithmen Migrationsberichterstattung, die möglichst negativ ist?
Wir sehen in ersten Studien, dass bestimmte Themen gerade jetzt auf TikTok oder Twitter gepusht werden. Das sind Themen, die polarisieren, Themen, die negative Emotionen, die Empörung hervorrufen. Da kommt es auch nicht auf die Menge der Inhalte an. Die AfD postet teilweise viel weniger als andere Parteien, bekommt aber oft mehr Reichweite.
Weil sie auf polarisierende Themen setzt.
Genau. Wie viel davon wirklich auf den Algorithmus zurückzuführen ist, ist aber schwer zu untersuchen, weil uns diese Daten der Plattformen nicht zur Verfügung stehen.
Eine Grenze, an die Wissenschaftler und Journalisten mit ihren Fragen immer wieder stoßen.
Ja, das ist für die Forschung wirklich ein großes Problem.
Sie haben ja schon gesagt, dass Berichterstattung über Migration einen Einfluss darauf hat, wie wichtig den Menschen das Thema ist. Beeinflusst sie denn auch die inhaltliche Einstellung?
Es gibt Studien, die zeigen, dass sowohl der Umfang der Berichterstattung, als auch ein negatives Framing in Kombination mit steigenden Migrationszahlen negative Einstellungen gegenüber Migration befördern und zu einer höheren Wahlabsicht für die AfD führen.
Wie bewerten die Menschen denn insgesamt die Berichterstattung über Migration?
Wir sehen, dass das Thema auch hier stark polarisiert. Etwa ein Drittel der Bevölkerung vertraut der Medienberichterstattung zum Thema Migration, ein knappes Drittel nicht. Journalistinnen und Journalisten berichten, dass ihnen sehr unterschiedliche Vorwürfe gemacht werden. Die einen finden die Berichterstattung verharmlosend und zu positiv, die anderen sagen, sie sei zu negativ und bediene Stereotype. Das ist sicherlich durch die Voreinstellung gegenüber Migration geprägt. Es gibt aber auch medienpsychologische Phänomene, wie die Hostile-Media-Wahrnehmung.
Was ist das?
Der Effekt zeigt, dass Menschen dazu tendieren, Berichterstattung zu Ungunsten der eigenen Position wahrzunehmen. Das ist wie beim Fußball, wenn die Fans von beiden Teams den Eindruck haben, der Schiedsrichter pfeift gegen die eigene Mannschaft. Das zeigt sich auch bei politischen Themen, und je involvierter und extremer man bei einem Thema ist, desto eher denkt man, die Medien berichten gegen die eigene Position. Medieninhalte, die mit der eigenen Position übereinstimmen, werden zudem als glaubwürdiger wahrgenommen.
Das heißt aber, je extremer die gesellschaftlichen Positionen zu einem Thema sind, desto schwerer haben es die Medien, wenn sie tatsächlich ausgewogen berichten wollen.
Auf jeden Fall. Die Verantwortung der Medien ist es ja auch nur, alle Positionen innerhalb eines demokratischen Spektrums zu repräsentieren. Wer sich an den Rändern befindet, fühlt sich von den Medien nicht angemessen repräsentiert, weil die Positionen eben extremer sind - auch wenn man das selbst vielleicht nicht so wahrnimmt.
Welche Leitplanken empfehlen Sie denn Redaktionen für die Migrationsberichterstattung? Mit dem Wissen um die demokratische Verantwortung ist es ja oft nicht getan.
Da gibt es Punkte, an denen man ansetzen kann. Ein wichtiger Aspekt ist, dass man in sozialen Medien kein repräsentatives Abbild der Bevölkerung sieht, sondern eine sehr laute Minderheit. Beispielsweise werden alternative Medien nur von etwa fünf Prozent der Bevölkerung regelmäßig genutzt, ein verschwindend geringer Teil. Trotzdem nehmen sie immer mehr Einfluss auf den Diskurs, weil der Journalismus deren Themen aufgreift und ihnen überhaupt erst eine große Reichweite verschafft. Ich habe den Eindruck, dass der Journalismus sich davon stark getrieben fühlt, ebenso wie von bewussten Provokationen aus der Politik. Hier ist es sehr wichtig, dass man nicht in eine Negativspirale gerät, sondern Zeitpunkt und Inhalte der Berichterstattung stärker selbst bestimmt und die Interessen der gesamten Bevölkerung im Blick behält.